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Traumatherapie
Buchbesprechung: "Im Keller", Jan Philipp Reemtsma
Buchbesprechnung: "Der Minus- Mann", Heinz Sobota
Buchbesprechnung: "Das Schweigen des Lichts", Tahar Ben Jelloun
Buchbesprechung: "Samarkand" , Olga Karitidi
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BUCHBESPRECHUNG
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 3. Aufl. 2002
ISBN 3-499-22221-3
1996 wurde der erfolgreiche Sozialforscher, Buchautor und Millionenerbe Reemtsma entführt. 33 Tage blieb er in einem Keller in Gefangenschaft seiner Entführer.
Auf beiden Seiten waren Profis am Werk: Die Entführer handelten gut überlegt, Reemtsma reagierte überlegt und reflektierte mit dem erweiterten Blick eines Wissenschaftlers was um ihn und mit ihm geschah.
Er selbst war und ist Experte auf dem Gebiet der Traumaforschung und gibt dem Leser einen guten Einblick in die Erlebnisse einer traumatisierten Person. Sein Bericht ist in der dritten Person verfasst. Für ihn war die Zeit im Keller etwas außerhalb von ihm selbst. Etwas nicht Ichhaftes. Ein (fast nebensächlicher) Satz bringt diesen Zustand auf den Punkt: „Es war nicht so, dass ihm etwas fehlte, er war nicht da.“ Er war vielmehr der Ort der Angst als die Person, die Reemtsma als „ich“ bezeichnet.
Die Möglichkeit seine Eindrücke, Befürchtungen und Überlegungen im Keller aufzuschreiben, erlaubte es ihm, seine unveränderliche Situation zu vergegenständlichen. „Wenn man so will, war das Stück Papier der Ort seines Ichs.“ Doch er musste seine Aufzeichnungen zurück lassen, was ihm wie der Verlust seiner Persönlichkeit vorkam.
Reemtsma war im Keller in einer Art auf sich selbst zurück geworfen, wie ich mir das vorher gar nicht vorstellen konnte: Absolute Finsternis mit künstlicher Beleuchtung, nur indirekter Kontakt mit der Außenwelt über Inserate in Tageszeitungen, von den Entführern ausgewählte Bücher, spärliche Gespräche mit einem der Entführer, den er niemals sehen durfte, Berichte über missglückte Lösegeldübergaben aus der Sicht eines Entführers...
Sehr klar erkennt Reemtsma in dieser Situation, dass das Ich ein Konstrukt ist, das wir nicht ohne Zutun „haben“. Das Ich entsteht vielmehr in unseren vielfältigen Kontakten mit der Umwelt. Wenn aber keine Umwelt da ist, bzw. wenn sie reduziert ist auf einen einzigen Raum mit Matratze, Armbanduhr, Campingtoilette, Glühlampe, Heizkörper und Ketten – wie soll man dann ein Ich konstruieren?
In der dritten Person berichtet Reemtsma über die Gedanken und Gefühle des Mannes im Keller. Die Süddeutsche Zeitung sieht in dieser fiktiven Figur einen Helden. Diese Auffassung kann ich nicht teilen! Ich habe nur einen Mann gesehen, einen Mann mit starken Gefühlen. Wie oft kommt es schon vor, dass ein Mann von seiner Angst berichtet? Wie oft erlebt man es, dass ein Mann von seinen existenziellen Unsicherheiten spricht? Sogar als Psychotherapeutin höre ich selten von Männern, dass sie sich einer Sache schämen. Als ich mit dem Buch fertig war und es ins Regal stellte, hatte ich das traurige Gefühl, einen guten Freund verloren zu haben, der mir offen und ehrlich über seine Erfahrungen, Gedanken und Emotionen im Keller berichtet hat.
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BUCHBESPRECHUNG
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1978
ISBN 3-462-01261-4
Wer wissen möchte, welche Menschen auf der dunklen Seite des Lebens stehen und anderen Traumatas zufügen, die die allgemein-menschliche Vorstellungskraft bei weitem übersteigen, der muss sich dieses mehr als 25 Jahre alte Buch beschaffen und wie durch ein Guckloch in die Welt eines skrupellosen Psychopathen hinein schauen.
Dieses Buch wurde in einem französischen Gefängnis von einem österreichischen Zuhälter und Gewaltverbrecher in schonungsloser Offenheit niedergeschrieben. Abgesehen von einer schon im Ansatz gescheiterten Liebesbeziehung zu einer bedingungslos liebenden, reifen Frau, ist kaum ein Verhalten oder eine Gefühlsregung nachvollziehbar.
Weder seine unmotivierte Brutalität, noch seine Anklage gegen „die Gesellschaft“, noch sein Hass gegen seinen Vater sind nachvollziehbar. Auch nicht sein Mangel an positiven Gefühlen, wie Dankbarkeit gegenüber Menschen, die ihm das Leben erleichtern. Einzig und allein seine Mutter weckt ein emotionales Gemisch aus Mitleid, Dankbarkeit und Liebe.
Der Einblick in den Gefängnisalltag ist bestürzend und ich hoffe sehr, dass Herr Sobota mit seinen Enthüllungen über den ganz normalen Strafvollzug, Reformen in Richtung menschenwürdiger Unterbringung angeregt hat.
Noch bestürzender aber ist seine Gefühlskälte. Am dramatischsten sind für mich die Beschreibungen, wie er jungen Mädchen Gewalt angetan hat. In einem Fall hat er den Freund des jungen Mädchens niedergeschlagen und das Mädchen selbst, das er durch zärtliche Zuwendung spielend leicht gewinnen hätte können, brutal vergewaltigte. Als er sein Bedürfnis befriedigt hatte, hat er es seinem Kumpel (das Wort „Freund“ möchte ich hier nicht missbrauchen) zur zweiten Vergewaltigung überlassen und sie dann in der Nacht irgendwo zwischen Wiesen und Wäldern ausgesetzt.
In einem zweiten Fall beschreibt er die Entführung einer jungen Frau, die er unter körperlichen Misshandlungen und psychischen Demütigungen, für den Export nach Deutschland, als Prostituierte „abgerichtet“ hat.
Jede Mutter, jeder Vater kann nur hoffen, dass seine Tochter niemals einem Mann begegnet, der so charmant und verführerisch und so gewissenlos ist, wie Heinz Sobota.
Der Schlüssel zu all diesen Gewalttaten scheint in seinem Selbsthass zu liegen. Über lange Zeit hat man den Eindruck, dass Sobota überhaupt alles machen muss, was verboten ist. Erst eine junge Frau, im Frauengefängnis zwei Stockwerke über ihm, motivierte ihn erstmals, sich angepasster zu verhalten, damit sie einander bei den Haftbegünstigungen sehen können. Als Leserin hatte ich den Eindruck, als wäre er selbst auch nach 100 Jahren Haft nicht auf die Idee gekommen, durch Einhaltung der Spielregeln oder durch Kompromisse einen Vorteil zu erlangen. Im Gegenteil: Würde man das Suppeessen mit der Gabel verbieten, wäre Sobota der erste gewesen, der von diesem Tag an die Suppe konsequent mit der Gabel gegessen hätte und jede Strafe triumphierend angenommen hätte.
Aber was kann ein so konsequent antisoziales Verhalten bei einem Menschen auslösen? Sein Vater war hart und streng. Sein Vater ging fremd und der vierjährige Sohn hat ihn dabei gesehen. Die Mutter war schwach und dem Sohn in bedingungsloser Liebe zugewandt. Für die Mutter war er Partnerersatz. Ist das nicht ein Schicksal von tausenden Männern, der Nachkriegszeit? Nein, ich möchte das kindliche Trauma damit nicht abschwächen – sein Verhalten damit aber auch nicht entschuldigen. Ich kann und will es auch gar nicht verstehen, weil ich mehr Mitgefühl für die jungen Mädchen habe als für den brutalen Gewalttäter. Ich habe auch mehr Mitgefühl für die im Gefängnis missbrauchten und vergewaltigten zart besaiteten jungen Männer als für ihre Vergewaltiger.
Mitgefühl entwickle ich höchstens bei dem Gedanken an das vergeudete, verschwendete Potenzial eines jungen Menschen, der eine hohe Reflexionsfähigkeit, sprachliches Talent, Lebenstüchtigkeit und eine beneidenswerte Vitalität besaß, und daraus – zumindest bis zum Zeitpunkt der Romanabfassung – nichts Positives gemacht hat. Mitgefühl entwickle ich für den jungen Mann, der keine Liebe für sich oder andere empfindet. Mitgefühl entwickle ich für einen Menschen, der nur nimmt und nicht einmal durch ein Gefühl der Dankbarkeit, geschweige denn durch andere Gesten und Verhaltensweisen, eine Gegenleistung erbringt. Im Roman erhalten wir keine Aufklärung darüber, wo er es gelernt hat, dass er nur zu nehmen braucht und niemals geben muss.
Die einzige Frau (abgesehen von seiner Mutter), die in diesem Roman vorkommt und nicht nur missbraucht wird, ist Stella, die die Fähigkeit hat, hinter seiner grausamen Fassade die Person zu sehen. Auf Dauer kann es ein Mensch allerdings nicht ertragen, dass er mehr geliebt wird als er sich selbst lieben kann. So endet diese Liebesbeziehung auch damit, dass sie sich von ihm zurückzieht um ihre Würde zu retten. „Hinter vielen, vielen Schichten, vielleicht unerreichbar, vielleicht doch zerstört, bist du der Mann, den ich liebe, aber ich kann so nicht mit dir leben. … Dein Gehirn verrottet, deine Seele schwimmt im Dreck, und du siehst tatenlos zu. Von all dieser unnennbaren Zärtlichkeit ist nur Zerstörungsdrang und Aggressivität geblieben.“ Das schreibt sie ihm im Abschiedsbrief und der Leser weiß genau so wie er selbst, dass sie damit recht hat.
Aber nicht nur er hat ein fatales Defizit an Selbstliebe, sondern auch die Frauen, die ihn lieben – abgesehen von Stella. Wie selbstverständlich umwerben sie ihn, gehen auf jeden seiner perversen Wünsche ein, lassen sich demütigen und schlagen und gehen für ihn auf den Strich, als ob es der größte Liebesbeweis wäre, für ihn anschaffen zu dürfen.
Dort wo gesunde Menschen Selbstliebe empfinden, gibt es für Sobota nur Egoismus ohne soziales Empfinden. Oft genug kotzt ihn seine eigene Gegenwart an und die der anderen fast immer. Seine Frauen zeigen statt Selbstliebe hündische Ergebenheit ohne Selbstachtung. Sein Kumpel Harry ist eine willenlose Kreatur, die ihm die Drecksarbeit macht. Die bewertende Instanz, die einem Menschen sagt, was gut für ihn und den anderen ist, fehlt vollkommen. Ihnen ist gemeinsam, dass ihr Handeln nicht auf nachhaltiges Wohlbefinden ausgerichtet ist.
Die Auflistung seiner pathologischen Persönlichkeitsmerkmale weckte in ihm „so etwas wie perversen Stolz“. Seiner Freundin Stella gegenüber definiert er sich so: „Du bist ständig Plus, ich pausenlos Minus. … Ich hab Angst vor Dingen, die sich nicht mit Schwanz und Faust zwingen lassen. Es war zulange selbstverständlich erst mal zuschlagen und dann zu überlegen, wenn überhaupt, oder manchmal zu bedauern. Es ist die einfachste, die gültige, die Zuchthauslösung. Wer sie bis heute nicht akzeptieren wollte, dem schlug ich, oder er mir, die Zähne ein. Das direkte Erfolgserlebnis.“ So einfach kann die Logik eines Psychopathen sein.
So dankbar ich Herrn Sobota auch bin, dass er mir Einblick gewährt hat in ein Menschsein, das mir bisher fremd war, so bin ich doch froh das zu Ende gelesene Buch wieder schließen zu können und hoffe, niemals einem Menschen wie ihm zu begegnen.
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BUCHBESPRECHUNG
Berlin Verlag, 2001
ISBN 3-8270-0427-6
Dieser Roman basiert auf dem Erfahrungsbericht eines Gefangenen, der 18 Jahre in einem geheimen marokkanischen Straflager, namens Tazmamart, inhaftiert war. Sein Vergehen war die Teilnahme an einem Putschversuch gegen König Hassan II. im Jahr 1971. Nach 20 Jahren wurde dieses Gefängnis, in dem es kein Licht und keine Einrichtung gab, dessen Raumhöhe nur 1,50 Meter betrug und in dem selbst das Essen als Folterinstrument diente, auf internationalen Druck geschlossen.
Salim kommt als Zwanzigjähriger ins Gefängnis und verbringt dort seine Tage ohne zeitliche Orientierung, ohne Alter. „Ich habe mein Alter verloren.“ Als er sich kurz vor der Freilassung erstmals in einem Spiegel sah, hatte er Angst vor sich selbst, vor seinem erschrockenen und erschreckenden Blick.
Dreiundzwanzig kamen in dieses Lager, nur drei haben das Martyrium überlebt. Einige haben den Verstand verloren, andere haben Selbstmord begangen oder sind an Mangelerkrankungen gestorben, ein bösartiger Wärter hat auch damit nachgeholfen, dass er ihnen Skorpione in das Kellerloch einschmuggelte, die sie im Schlaf töteten.
Was hat Salim geholfen zu überleben? Seine erste Erkenntnis bestand darin, dass das Erinnern sein Feind war. „Wer seine Erinnerung aufleben ließ, starb bald danach. Es war, als schlucke er Blausäure.“ Seine Aufgabe bestand also darin, jenen Mann, der er vorher einmal war, vollkommen von sich abzuspalten, so als hätte es ihn nie gegeben.
Weiters wurde für ihn die Aufrechterhaltung der Würde zur obersten Pflicht. Sein Glaube half ihm dabei keine Angst zu spüren. Über viele Jahre gelang es ihnen mit großer Disziplin eine Arbeitsteilung und Zeiteinteilung zu praktizieren, die beeindruckend ist. Ein Häftling „las“ den Koran, einer übernahm es nach seinem inneren Gefühl über die Zeit zu wachen und das Jahr, den Tag und die Stunde anzusagen, ein anderer gab Englischunterricht und Salim rezitierte aus Büchern, an die er sich mit fotografischem Gedächtnis erinnerte oder erzählte von Kinofilmen, die er in Marrakech gesehen hatte. Wieder ein anderer fertigte in der undurchdringlichen Finsternis des Kerkers Nähnadeln um ihre zerschlissene Bekleidung zu reparieren. Einer war Experte für Skorpione und half ihnen somit das Attentat des Wärters zu überleben.
Sie mussten am kalten Fußboden schlafen, hatten nur zwei dünne Decken und mussten acht geben in der Nacht nicht zu erfrieren. Wenn einer von ihnen starb, versuchten sie seine Kleider und Decken zu ergattern und gaben sie jenen, die am schwächsten waren. Das Essen war schlecht und mangelhaft. Spülwasser wäre besser gewesen als jene Brühe, die sie ihnen als Kaffee servierten. Doch „die meisten, die umkamen, sind nicht an Hunger gestorben, sondern an Hass.“ Der Hass machte sie schwach und klein und griff ihr Immunsystem von innen an. Salim lernte sehr bald seinen Hass zu überwinden. Und er lernte seinen Körper zu vergessen, indem er sich auf seinen Atemrhythmus konzentrierte. „Die Hölle war in uns und um uns“. Diese Hölle war ihm nützlich um seine Stärke und Kraft zu messen. Nur in einer körperlosen Welt konnten sie Hunger und Kälte, Verletzungen und Krankheiten überleben.
Die Würde bewahren bedeutete für ihn auch, sich von jeder Hoffnung zu distanzieren. Das bedeutete, „sich weigern, von diesem perversen Hoffnungsstrick abzuhängen“. „Die Hoffnung war eine wie eine Beruhigungsspritze wirkende Lüge.
Aber es gab nicht nur Menschen wie Salim in diesem Gefängnis, der sein Wesen bei jedem Angriff auf seine Würde und sein Leben vervollkommnete. Es gab auch Häftlinge, die böse, eifersüchtig und neidisch waren. Ein Vogel besuchte Salim beispielsweise regelmäßig über das Entlüftungssystem und sang ihm vor, wie das Wetter draußen ist, und Salim fütterte ihn mit Brot. Seinen Zellennachbarn trieb das in rasende Eifersucht, auch wenn die anderen den Koran rezitierten oder Englisch lernten, fühlte er sich ausgeschlossen und wütete und quengelte, wie ein kleines Kind, das von den anderen vom Spielplatz verwiesen wird. Aber auch dieser Gefangene hat das Martyrium bis zu Schluss überlebt. Für mich als Leserin ganz unglaublich: Sowohl die „entwickeltste“ als auch die „unentwickeltste“ Persönlichkeit haben überlebt – als hätte Gott vergessen, für diesen Spezialfall Gesetze aufzustellen. „Der Mensch ist doch ein erstaunliches Wesen! Diese ungeahnten Willensreserven. Trotz aller Schwierigkeiten hält er durch“, sagte ein Wärter, der auch berichtete, dass sie über die Reihenfolge der Toten Wetten abgeschlossen haben.
Als die Inhaftierten von Tazmamart weg gebracht wurden, rollten bereits die Bulldozer an, die das Gefängnis ausradierten, damit man hinterher sagen konnte, solch ein Ort des Grauens habe niemals existiert. Für die wenigen Überlebenden war es, als würde man ihnen ihr Leben ein zweites Mal wegnehmen.
Zurück im zivilisierten Leben hielt sich der „Freudentaumel“ in Grenzen. Wer das reichliche Essen zu sich nahm, das ihnen zum Aufpäppeln angeboten wurde, krepierte fast an den Folgen. Als Salim sich erstmals in ein weiches Bett legte, hatte er den Eindruck als stürze er mit einem Fallschirm ab, der sich nicht öffnen lässt. Sein Gebiss war verfallen, seine Wirbelsäule hatte sich gekrümmt, die Galle funktionierte nicht mehr. Vor der Freilassung wurde ihnen mit neuerlicher Inhaftierung gedroht, falls sie auch nur ein Wort gegenüber der internationalen Presse verlauten ließen. Sein Blick versetzte die anderen in Angst und Schrecken. Am sozialen Leben beteiligte er sich nicht. Er konnte seinen Angehörigen nicht erzählen, was ihm geschehen war, denn Worte reichten dazu nicht aus. „Er steht noch unter Schock. Er ist seltsam! … er hat ein Trauma“, damit überließ man ihn seiner eigenen Welt.
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BUCHBESPRECHUNG
Verlag List, 2001
ISBN 3-471-79478-6
Olga Kharitidi, die russische Psychiaterin ist mir bereits als Autorin des erfolgreichen Romans „Das weiße Land der Seele“ bekannt, in dem sie eine spirituelle Reise unternimmt, die mir als Leserin ganz unwirklich realistisch erschien. Eines haben beide Romane allerdings gemeinsam, sie gingen mir durch ihren begriffsstutzigen Stil auf die Nerven. Alle LeserInnen wissen bereits worum es geht, nur die Protagonistin in der Geschichte steht immer noch auf der Leitung. Aber wenn ich davon absehe, sind beide Romane höchst interessant und lesenswert.
Warum ich diese Buchbesprechung in meine Homepage gebe, liegt daran, dass Kharitidi sich darin sehr ausführlich mit Traumatherapie beschäftigt. Vor allem die Beschäftigung mit dem kollektiven Trauma, das jahrhunderte nachwirken kann, ist psychologisch ja noch sehr unterbelichtet.
Einige Passagen entnehme ich unmittelbar von Wladimir, einem geheimnisvollen Mann, an dessen Vortrag die Psychiaterin teilnimmt. Sie sprechen für sich selbst und jede Übersetzung in meine eigene Sprache, könnte ihren Gehalt nur verdünnen.
„Die Quellen von Unglück und Krankheit nennen wir ‚Trauma’. Und wir glauben, dass wir alle lebendige Verkörperungen des Traumas in uns tragen. In unserer Tradition nennen wir sie ‚Dämonen des Traumas’. Wenn etwas Sie verletzt und Sie das nicht voll und ganz als Teil Ihrer persönlichen Geschichte akzeptieren, entsteht eine Lücke in Ihrer Erinnerung; eine Lücke, die, wenn die Verletzung schlimm genug ist oder häufig wiederholt wird, von einem Dämon besetzt wird. Sie brauchen sich darunter nicht unbedingt ein altmodisches, scheußliches Monster vorzustellen, das auf Ihrem Rücken sitzt und Ihnen das Blut aussaugt.“ … „Sie können darüber auch in Begriffen der neurokognitiven Wissenschaft nachdenken, falls Ihnen der Ausdruck ‚Neurotransmitter’ besser gefällt als ‚Kreaturen der Nacht’. Sie können Sie als andere Manifestation von Wesen oder als nichtintegrierte Verkörperungen bezeichnen; Sie können jede Sprache oder jede Matapher benutzen, die Ihnen gefällt. … Wichtig ist der Prozess. Der interne psychische Prozess, der sich häufig über Generationen durch die Vererbung von Traumamustern fortsetzt, die vielleicht vor sehr langer Zeit bei einem Ihrer Vorfahren durch eine unerträgliche Verletzung entstanden sind.
Menschliche Gene sind wesentlich flexibler, als wir glauben. Sie nehmen wahr in demselben Maße, wie sie agieren. Wenn sich eine Verletzung erst einmal in den Genen niedergeschlagen hat, agieren diese anders und verzerren die Erinnerung. Dadurch bleibt sie unvollständig. Es entsteht eine Lücke in der Erinnerung, und der Dämon des Traumas nistet sich ein, unbemerkt von unserem Bewusstsein.
Der Dämon eines Traumas ist am Werk, wenn ein Mann, der eine wunderbare Familie hat, ein angenehmes Leben führt und psychisch stabil ist, eines Morgens aufsteht, seiner Frau eine Nachricht hinterlässt, seinem elfjährigem Sohn einen Abschiedskuss auf die Stirn drückt und mit dem Rasiermesser in der Tasche auf den Friedhof geht. Und auf dem Grab seines Vaters, der sich, als sein Sohn genau elf Jahre alt war, erhängte, schneidet er sich die Kehle durch. Er schneidet so tief, dass das Grab mit seinem Blut getränkt ist, als die Polizei ihn findet, und dass nur ein medizinisches Wunder ihn wieder ins Leben zurückbringen kann. Wenn er wieder aufwacht, kann er nicht erklären, was geschehen ist. Er kann nichts sagen, außer dass sein Vater ihm so Leid tat und dass er bei ihm sein wollte.“ …
„Derselbe Mechanismus funktioniert auch bei kleineren Dingen. Sobald wir in diese Welt eintreten, fangen wir an, im Korb unseres Gedächtnisses individuelle Verletzungen zu sammeln. … Jedes Geschöpf versucht zu überleben. Das gilt auch für die Dämonen des Traumas. Sie müssen ‚essen’. Sie sind immer hungrig. Sie schaffen ‚Nahrung’ für sich, indem sie mehr Schmerz erzeugen. Wie kommt das Paradox zustande, dass Opfer von Misshandlungen selbst zu den schlimmsten Misshandlern werden? Das ist nicht logisch, aber für die Dämonen des Traumas ist es absolut ‚folgerichtig’, in Opfern von Misshandlungen zu wachsen und sich zu ernähren, indem sie den Schmerz wieder von neuem erzeugen.“ (S. 65f)
… „Es gibt drei Gründe, warum es für jeden lebenswichtig ist, den Kampf gegen die Dämonen des Traumas zu gewinnen. Erstens, weil der Sieg über die Dämonen Heilung bedeutet, er beseitigt das Unglück und heilt Krankheiten. Krankheiten sind das Mittel, mit dessen Hilfe der Organismus versucht, das Trauma auf eigene Faust zu bekämpfen. Wie oft habe ich erlebt, dass Menschen in ganz bestimmten Lebenssituationen krank werden und nach Hilfe verlangen, Situationen, in denen der Dämon bei einem Menschen mit lückenhafter Erinnerung plötzlich aktiv wird. Deswegen treten viele Heilerfolge ein, wenn der Patient in der Lage ist, die Wurzel des Traumas auszumerzen.
Zweitens glauben wir unter Berufung auf unsere Tradition, dass alles, was wir tun, mit den Generationen vor uns zusammenhängt und sich auf die Generationen nach uns auswirkt.“ …
Drittens geht es dem Referenten Wladimir um den Tod. „Weil er eine Angst auslöst, die wir alle empfinden.“ Nicht als Angst vor dem Unbekannten, sondern als „Angst vor dem Bekannten, das von unserem Bewusstsein aber nicht als real anerkannt wird. Im Laufe unseres Lebens nisten sich die Traumata, die wir erleben, in uns als schmerzhafte Knoten ein, die von den Dämonen noch fester gezurrt werden. Wenn sich diese Knoten im Laufe unseres Lebens nicht lösen, wird das nach unserem physischen Tod geschehen. Und es spielt keine Rolle, ob man an ein Leben nach dem Tod glaubt oder nicht. … Würde es für Sie von großer Bedeutung sein, ob das alles innerhalb von Minuten nach dem Tod geschieht, obwohl Sie persönlich es als eine Ewigkeit der Qual erleben?“ (S. 67 – 70)
Wladimir und seine Leute werden „Traumheiler“ genannt. Sie „arbeiten mit der Wiederherstellung der Erinnerung in Träumen und lassen so in der Erinnerung keinen Raum mehr für die Dämonen des Traumas, wenn sie geheilt ist. Wir bringen den Menschen bei, ihren Traumata ins Gesicht zu sehen und zu sagen: ‚Ich kenne dich. Ich kenne deinen Namen’, und sich so davor zu schützen, dass sie von den Dämonen zerstört werden.“ (S. 74)
Wladimir wendet sich mit seinem seit Generationen weitergegebenen Wissen auch an die westliche Welt, in der es keine Übergangsrituale mehr gibt, in denen traumatische Knoten der Vergangenheit durch Initiationsriten gelöst werden. Stattdessen häufen sich die Traumata auf einer kollektiven Ebene an und schaffen ein Bedrohungspotenzial, das noch gefährlicher ist als zu der Zeit, als die Dämonen des Traumas Weltkriege auslösten.
Seinen Vortrag beendet Wladimir mit der Einladung, die Traumaarbeit in Samarkand, in Zentralasien, kennen zu lernen um als geheilter Mensch auch andere zu heilen und Heilung für die Welt zu bewirken.
Der weitere Roman erzählt davon, wie die Psychiaterin ihre eigenen Traumata in Samarkand heilt.
Auf diese Geschichte möchte ich gar nicht weiter eingehen. Für mich ist es viel relevanter, dass ich beim Lesen dieses Romans erstmals erfahren und verstanden habe, wie wichtig Gedenkstätten für die Heilung von Traumata sind. Ich denke dabei an die jährlichen Treffen von Überlebenden aus den KZs. Wie wichtig es doch für diese Menschen ist, dass sich ihre Erinnerungslücken schließen, damit sich dort nicht „die Dämonen des Traumas“ oder Angst und Panik einnisten.
Ich selbst habe heuer im Frühjahr eine Gedenkstätte in Slowenien für die Opfer der Partisanen besucht und war tief bewegt davon, auf einem Holzsteg buchstäblich ‚über Leichen zu gehen’.
Die Überlegungen zum kollektiven Trauma lassen mich auch verstehen, warum Serben und Kroaten noch heute von der Schlacht am Amselfeld reden, als hätte sie nicht vor Jahrhunderten, sondern erst vor ein paar Jahren stattgefunden.
Sie helfen mir eine Antwort zu finden, warum die Nachkommen der Juden heute als bis an die Zähne gerüstete Militärmacht ohne Skrupel die Palästinenser unterdrücken und libanesische Städte bombardieren.
Sie helfen mir auch zu verstehen, warum für die Muslime die Kreuzzüge noch gegenwärtiger sind, als mir die Nachrichten von gestern Abend. Wenn also heute ein Christ eine Karikatur Mohammeds zeichnet oder der Papst den Fortschritt im Islam in Zweifel zieht, dann treiben die Dämonen der Kreuzzüge abertausende Muslime hasserfüllt auf die Straßen. Ihre Dämonen verschließen ihnen die Augen und sie sehen keinen Unterschied mehr zwischen einem Kreuzritter und dem Papst. Sie haben dann keine Hemmungen, ihn mit Mussolini oder Hitler gleich zu setzen.
Auch unter einander kämpfen die Schiiten und die Sunniten einen erbitterten und manchmal tödlichen Kampf, der auf die Auseinandersetzung zweier Frauen Mohammeds um deren Religionsauslegung zurückgeht und in jeder Generation die Knoten des Traumas fester gezurrt hat.
Wenn ich über das alles nachdenke, wird mir klar, dass ich meine persönlichen Knoten lösen muss, damit ich nicht von kollektiver Angst erfasst werde, und den Mitmenschen und der Welt dann keinen Dienst mehr erweisen kann. Ich reise nicht besonders gerne, darum werde ich auch nicht nach Samarkand fahren. Zum Glück bietet unsere eigene Kultur ebenfalls eine Menge Methoden zur Behandlung und Auflösung von Traumata. Sei es die, schon seit 100 Jahren bewährte Psychoanalyse oder das modernere EMDR. An den Methoden mangelt es bei uns nicht. Ich hoffe, dass die Einsicht, wie wichtig es ist Traumatisierungen zu integrieren, auch durch Bücher wie Olga Kharitidis „Samarkand“ immer mehr und mehr Menschen erreicht.
Trauerarbeit
Trauer
Nachruf: Lebe wohl, Silvia!
Buchbesprechnung: "Ich sterbe aber die Erinnerung bleibt", Henning Mankell
Sterbephasen nach Kübler - Ross
Trauerphasen nach Verena Kast
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Trauer
Trauer sieht äußerlich der Depression sehr ähnlich und fühlt sich auch innerlich so ähnlich an. Sie ist aber eine „gesunde“ Reaktion unseres Organismus auf einen schweren Schicksalsschlag, auf Tod oder Trennung.
Trauernde Menschen haben wenig Interesse an ihrer Umwelt, sind verletzlich und leicht erschöpft, energie- und kraftlos. Die Trauer beeinträchtigt das geordnete Denken und die Konzentration und führt häufig zu Magen- Darmstörungen, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit.
Der qualitative Unterschied zur Depression zeigt sich in der Trauerarbeit. Menschen die Trauerarbeit leisten, können das Gute aus der alten Situation integrieren und sich dem Neuen zuwenden. Die Trauerarbeit ist einem ganz typischen zeitlichen Ablauf unterworfen, dem Trauerprozess.
* Die erste Phase des Trauerprozesses ist durch Verleugnung und Protest gekennzeichnet. Der Trauernde tut so als wäre alles noch beim Alten. Das Bett des Verstorbenen wird regelmäßig überzogen, seine Lieblingsspeisen werden gekocht, die Anzüge gelüftet usw.
* Die zweite Phase ist durch Verzweiflung geprägt. Das emotionale Chaos bricht aus: Schmerz, Schuldgefühle, Angst, Wut, Sehnsucht und Vorwürfe wechseln einander ab.
* Die dritte Phase dient dem Abschiednehmen und der Akzeptanz des Unabänderlichen. Dadurch, dass eine tiefe innerliche Beziehung zum Verstorbenen entsteht, wird es möglich sich wieder vermehrt der Außenwelt zuzuwenden.
* Die vierte Phase spiegelt die Wieder-Hinwendung zur Welt. Die trauernde Person kann wieder neue Beziehungen knüpfen und vertraut sich wieder dem Fluss des Lebens an.
In vielen Kulturen (in meiner Kindheit auch noch bei uns) ist oder war es üblich, dass ein Trauerjahr eingehalten wird. Durch schwarze Kleidung, Strümpfe, Armschleifen oder Kopftücher zeigten die Menschen, dass ihre Seele Trauer trägt und jeder respektierte, dass sie daher an gewissen Vergnügungen nicht teilnahmen. Dieses Brauchtum hat sich weitgehend auch auf dem Land bereits aufgelöst und der schützende Raum für die Trauer fällt mehr und mehr weg. Ganz besonders tragisch ist das bei geschiedenen Frauen und Männern, die einen ebenso großen Verlust erlitten haben und sich danach auch noch zufrieden zeigen sollen, dass ihre schlechte Ehe endlich geschieden ist. Kaum jemand versteht, wie wichtig es für Geschiedene ist, ihren gescheiterten Lebenstraum zu betrauern.
Der natürliche Trauerprozess, der gewöhnlich ein Jahr dauert, passt kaum noch in unsere hektische funktionalistische Welt. Weder Vorgesetzte noch Freunde haben in den meisten Fällen ausreichende Geduld für den trauernden Menschen, manchmal auch dieser selbst nicht. Häufig werden gesund trauernde Menschen pathologisiert und mit Medikamenten wieder funktionstüchtig gemacht. Dadurch kann es wirklich zu Krankheiten kommen, auch zur ursprünglich falsch diagnostizierten Depression.
Der Trauerprozess braucht Zeit. Der ganze Jahreszyklus mit Weihnachten, Ostern, Geburtstagen, Urlaub usw. muss mindestens einmal allein durchlebt werden um den Trauerprozess abzuschließen und das Leben in seiner neuen Qualität wieder voll zu genießen.
Doch auch der natürliche Trauerprozess kann mit professioneller Hilfe nerven- und kräfteschonender bewältigt werden als im Alleingang.
(Auszug aus dem Artikel Nicht alles was wir "Depression" nennen ist eine Depression, erschienen im Jänner 2000 in „ÖTL-Tinnigramm“, Zeitschrift der Österreichischen Tinnitus-Liga)
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Lebe wohl, Silvia!
Versöhnung und Enttabuisierung auf dem Sterbebett.
Vor einer Stunde habe ich die Nachricht erhalten, dass eine „meiner“ Klientinnen verstorben ist. Es ist mir ein Anliegen Ihnen / Dir liebe Leserin / lieber Leser eine kurze Geschichte meiner Arbeit mit dieser Frau zu erzählen.
Vorigen Donnerstag wurde ich von einer Sozialarbeiterin ins Krankenhaus gebeten, um eine Krebspatientin im Alter von 44 Jahren zu besuchen. (Als Honorarkraft der Österreichischen Krebshilfe Steiermark, sind mein Haus- und Krankenhausbesuche, sowie Beratungen im Beratungszentrum der Krebshilfe in der Rudol-Hans-Bartsch-Straße 15 - 17, für KrebspatientInnen und deren Angehörige kostenlos.)Auf dem Weg dorthin haben gemischte Gefühle mich bewegt. Ich selbst bin nur um 4 Jahre älter als diese Patientin. Was wird mich erwarten? Ich war vorinfortmiert, dass sie jede schulmedizinische Behandlung verweigert hatte und nun im Terminalstadium war. Ich selbst bin von der komplementären Medizin angetan, aber eine Operation würde ich niemals verweigern.
Das Wechselbad von Gedanken und Gefühlen ging weiter, als ich mein Gespräch mit der Klientin begann. Ich erwartete eine Sterbende. Sie aber strahlte mich an und freute sich über meinen Weinroten Pullover, den sie als Symbol für Heilung deutete.
Silvia war bereits sehr ausgezehrt und das Reden fiel ihr schwer. Dennoch hatte sie ein unglaublich großes Mitteilungsbedürfnis. In knappen 1 ½ Stunden gelang es ihr, die Geschichte ihrer Familie bis zur 4. Generation vor mir auszubreiten. Während sie berichtete, zeichnete ich ihren Stammbaum mit und versuchte dadurch Ordnung in ihre chaotische Ansammlung von Familiengeschichten zu bringen.
Von der Sozialarbeiterin hatte ich erfahren, dass Silvias Verhältnis zur Mutter angespannt ist und dass sie den Vater erst kurz vor seinem Tod kennen gelernt hatte. Silvia erzählte mir, dass sie den tot kranken Vater im Krankenhaus besuchte und er, unmittelbar bei ihrem Eintreten ausrief: „Da schau, die Silvia!“* Worauf hin ich erstaunt feststellte: „Ihr Vater muss sie also aus der Ferne beobachtet haben, dass er sie so schnell erkennen konnte.“ Bei diesem Satz strahlte ihr Gesicht noch mehr: „Sie haben recht! Ja, sie haben recht! Er muss in meiner Nähe gewesen sein. Er hat mich sofort erkannt!“ Die Patientin war viel zu schwach, um das Gespräch, warum sie keinen Kontakt zum Vater haben durfte, obwohl der für sie Alimente zahlte, zu vertiefen.
Bei der Erarbeitung des Stammbaumes kam die Rede auch auf den Bruder von Silvias Großvater mütterlicherseits. Sie berichtete, dass dieser von seinen Schwestern eine Waffe geschenkt bekommen habe. „Er ging damit hinaus und probierte damit herum und plötzlich schoss er sich in die Brust und war tot.“ Im Versuch mir ein Bild von der Szene zu machen, antwortete ich mehr feststellend als fragend: „Er hat also Selbstmord begangen!!?“ Zuerst antwortete Silvia mit einem reflexhaften „Nein“, das aber schnell von einem „Ja“ abgelöst wurde. „Ja, jetzt verstehe ich das. Jetzt weiß ich was damals passiert ist. Das gibt einen Sinn.“ Und wieder strahlte die junge Frau, als hätte ich ihr das größte Geschenk gemacht.
Das Thema Selbstmord war in der Familie streng tabuisiert. Daran durfte man nicht einmal denken. Alle taten so, als wäre es ein Unfall gewesen. Nach diesen und vielen anderen Geschichten war Silvia glücklich aber sehr geschwächt und bat mich eindringlich, wieder zu kommen.
Ich sagte zu ihr: „Schade, dass sie so schwach sind, sie müssten ihre Familiengeschichte aufschreiben. Das wäre ein tolles Filmdrehbuch.“ „Das müssen sie für mich machen, Frau Doktor,“ antwortete Silvia. „Leider, das kann ich nicht,“ sagte ich, „ich kann mir nicht vorstellen, wie es war in ihrer Familie aufzuwachsen. Aber wenn ich wieder komme, werden sie mir noch mehr erzählen.“ Silvia strahlte glücklich und hielt meine Hand. Ich streichelt ihr über den Kopf.
Es war sonderbar: Ich verabschiedete mich von einer tot geweihten Frau und summte ein fröhliches Lied, als ich das Krankenhaus verließ. Das war am Freitag.
Am Samstag wurde Silvia immer stiller und stiller. Am Sonntag sprach sie nicht mehr. Am Montag Nachmittag verstarb sie ruhig um 16 Uhr. Kurze Zeit später begann ich damit, ihren schnell neben her gezeichneten Stammbaum auf schönes Papier zu übertragen, um ihr ein „Bild“ von ihrer Familie am nächsten Tag mit bringen zu können, das sie selbst mit Filzstiften ausmalen sollte.
Heute früh erhielt ich einen Anruf vom Krankenhaus, dass Silvia gestern verstorben ist. Vielleicht hat sich in ihren letzten Stunden noch etwas zum Guten gewendet. Sie wusste zumindest, dass sie ihrem Vater, den sie nie sehen durfte, etwas bedeutete. Und sie durchschaute eine Generationen übergreifende Lüge in ihrer Familie.
Leider kann ich ihren Auftrag, ihre Familiengeschichte zu schreiben nicht erfüllen. Ich habe keine Ahnung, welche Gesetze und Tabus es dort gab, was erlaubt oder was verboten war. Aber es liegt mir viel daran, Ihnen oder Dir liebe Leserin / lieber Leser, von meiner kurzen Begegnung mit Silvia zu berichten und ihr auf diesem Weg ein letztes „Lebe wohl!“ zu sagen.
Herta Scheucher
P.S.: Und mir soll keiner mehr sagen, „für eine Psychotherapie ist es jetzt schon zu spät“. Wenn wir nicht mehr Zeit haben, kann sogar ein einziges Gespräch die Sicht von der Welt noch verändern. Nach dem Motto: „Es ist nie zu spät eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.“
© Dr. Herta Scheucher, Rudolf-List-Gasse 45, 8010 Graz, Tel. & Fax: 0316/46 38 74
* Die Klientin möge mir verzeihen, dass ich aus Gründen der Anonymität einen anderen Namen verwenden muss.
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BUCHBESPRECHUNG
Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt.
Henning Mankell
Mit einem Memory Book von Christine Aguga
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004
ISBN 3-552-05297-6
Der Reingewinn für den Verkauf dieses Buches geht an Plan International Deutschland e.V., einer Organisation, die mit HIV/AIDS-betroffenen Familien in Uganda arbeitet.
Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell ist ein guter Kenner Afrikas und widmet einen großen Teil seiner Zeit dem Kampf gegen AIDS bzw. dessen Folgen. In Uganda unterstützt er das Projekt der Memory Books von Plan International.
Diesem Projekt kommt daher so große Bedeutung zu, weil in Uganda die große Gefahr besteht, dass eine ganze Generation reifer Erwachsener, d. h. die Väter und Mütter der kleinen Kinder durch Aids ausstirbt. Nur die Alten und die ganz jungen bleiben über. Aber auch die ganz jungen Mädchen sind in Gefahr, weil der Aberglaube besagt, dass eine Heilung von Aids möglich wäre, durch den Geschlechtsverkehr mit Jungfrauen. Da man nie sicher wissen kann, ob ein sexuell ausgereiftes Mädchen noch Jungfrau ist, werden immer kleinere Kinder vergewaltigt und ebenfalls infiziert.
Durch die Memory Books erhalten todgeweihte Väter und Mütter die Möglichkeit ihren Nachkommen ihre Familiengeschichte, Berichte über die Familienbräuche und persönliche Erinnerungen und Lebensweisheiten zu überliefern. Über die Memory Books können sie ihrem Kind auch Erinnerungen an seine Geburt, den ersten Schultag und sonstige Lieblingserinnerungen hinterlassen.
Im genannten Buch ist auf ca. 40 Seiten das Memory Book von Aguga Christine, einer afrikanischen Lehrerin abgedruckt, deren Mann und dessen Zweitfrau bereits an AIDS verstorben sind. Sie selbst hat ihre Kinder der Obhut ihrer Eltern anvertraut und versucht ihrer Tochter auf diesem Weg ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung zur Verfügung zu stellen.
Der Bericht von Henning Mankell, wie er Christine und deren Tochter Aida kennen lernt, war auch für mich, die ich kein Mankell-Fan bin, sehr berührend. Aida zeigt ihm vertrauensvoll, wie sie an einem heimlichen Ort eine Mangopflanze aufzieht, umzingelt von einer Welt in der alles durch Krankheit, Tod und Trauer bedroht ist.
Darüber hinaus, lässt sich Henning Mankell von den aktuellen Eindrücken in Afrika, immer wieder in seine eigenen Kindheitserinnerungen zurückführen.
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Darstellung der 1. Sterbephase nach Elisabeth Kübler-Ross: NICHT-WAHRHABEN-WOLLEN
Typische Merkmale Beispiele typischer Äußerungen Wesentliches für die Begleitung
Schock Nein, nicht ich! Abwarten
„Verdrängen“ Ich bin wie gelähmt. Halt geben.
Leugnen Ich kann es nicht glauben. Für die Einhaltung von Eß-, sowie
Stimmungslabilität Mir nimmt es den Atem. Schlaf-Wach-Rhythmen sorgen.
Weinkrämpfe Das kann nicht wahr sein. Nicht widersprechen.
Ich will davonlaufen. Nicht die Hoffnungsspirale verstärken.
Suche nach dem Meine Gedanken kreisen nur um die Gesprächsbereitschaft zeigen.
Strohhalm Diagnose. Geduld haben.
Im Kreis denken. Ich bin starr vor Schreck. Mein Gegenüber versuchen zu verstehen.
Ich bin sprachlos.
Ich fühle mich ohnmächtig.
Ich bin wie in Trance.
Anregung für eine persönliche Auseinandersetzung:
Impulsfrage 1: Wie reagiere ich auf Situationen (Schicksalsschläge) in meinem Leben, die ich nicht persönlich herbeigeführt habe, denen ich mich nicht entziehen kann?
Impulsfrage 2: Was würde ich mir von meinen Mitmenschen wünschen, wenn ich mit der Diagnose einer möglicherweise tödlich verlaufenden Krankheit konfrontiert werde?
Impulsfrage 3: Was könnte mir helfen, um mich in der Sterbebegleitung der Phase des nicht-wahrhaben-wollens, und der emotionalen Instabilität bei meinem Gegenüber öffnen zu können?
Darstellung der 2. Sterbephase nach Elisabeth Kübler-Ross: AUFLEHNUNG
Typische Merkmale Beispiele typischer Äusserungen Wesentliches für die Begleitung
Wut Warum ich? Vorwürfe und Abwertungen nicht persönlich nehmen.
Zorn Meine Wut ist grenzenlos. Verständnisvolle Zuwendung – trotzdem!
Hass Alles geht mir auf die Nerven! Nicht werten. Aktives Zuhören.
Nörgeln Warum ist Gott so ungerecht? Nicht allein lassen. Zuwendung – gerade jetzt!
Kritisieren Warum habe ausgerechnet ich so ein Pech? Negatives nicht in sich einlassen – trotzdem da
Selbstanklage Ich würde am liebsten alles zerstören, Gott sein. Abgrenzen!
Verbitterung und die Welt und mich selbst! Gesprächsbasis aufrechterhalten.
Ich werde es ihnen schon noch zeigen! Zuwendung statt Isolation – gerade jetzt! .
Ich traue keinem mehr! Zornausbrüche nicht verurteilen.
Ich werde mich an keine Vorschriften Sich nicht in den Problemen des Patienten verfangen.
halten! Ich werde tun was mir Wünsche wahrnehmen.
passt – jetzt erst recht! Gesagtes ernst nehmen aber nicht persönlich nehmen.
Anregung für eine persönliche Auseinandersetzung
Impulsfrage 1: Wie reagiere ich auf eine für mich gefährliche Lebenssituation? Neige ich dazu, mich und mein Verhalten zu verurteilen (Selbstbeschuldigung) oder tendiere ich eher dazu, anderen die Schuld zu geben (Sündenbock-Suche)?
Impulsfrage 2: Neige ich dazu, Gefühle der Wut und des Zorns offen zu zeigen und auszuleben oder spielen sich die seelischen Kämpfe eher in meinem Inneren ab? (Überprüfen sie es an konkreten Beispielen!)
Impulsfrage 3: Welche Gefühle, Gedanken und Reaktionsweisen lösen negative Gefühlsregungen, Zornausbrüche und Aggressionen anderer Menschen in mir aus?
Darstellung der 3. Sterbephase nach Elisabeth Kübler-Ross: VERHANDELN
Typische Merkmale Beispiele typischer Äusserungen Wesentliches für die Begleitung
Hoffnungsvoll Ja, es trifft mich, aber … Hoffnung lassen, jedoch keine unrealistischen
Kooperativ Wenn Gott mich noch ein Jahr Illusionen wecken.
Aktiv leben lässt, erbt alles die Kirche. Strategien und Inhalte des Verhandelns nicht
Umgänglich Ich nehme alle Behandlungen auf mich, bewerten.
wenn ich nur so lange lebe, bis meine Wortbrüchigkeit nicht persönlich nehmen.
Kinder versorgt sind. Sensibel sein für die raschen Umschwünge.
Ich werde alles tun was die Ärzte wollen, Stimmung heben. Abgrenzen.
wenn ich am Wochenende nach Hause Behandlungsalternativen unterstützen.
gehen darf. Alle Äußerungen ernst nehmen, nichts belächeln.
Ich werde mich an alle Vorschriften Den Patienten mit der „objektiven Wahrheit“ nicht
halten, wenn ich noch einen Sommer lang überfordern.
leben darf. Positive Stimmungen unterstützen.
Anregung für eine persönliche Auseinandersetzung
Impulsfrage 1: Welche Verhandlungsstrategien sind mir aus meinem Leben bekannt? Welche konkreten Maßnahmen, Verzichte, Einschränkungen etc., bin ich bereit in die Waagschale zu werfen, um mein Ziel zu erreichen? (Konkrete Beispiele)
Impulsfrage 2: Stell dir vor, ein Patient hat die Erlaubnis für einen Spaziergang mit dir bekommen. Du hast dich sehr dafür eingesetzt. Der Patient gibt sich aber mit einem Spaziergang nicht zufrieden. Wie reagierst du? Wie gehst du mit seiner Wortbrüchigkeit um?
Impulsfrage 3: Ein Mensch hält nicht, was er versprochen hat. Welche Gefühle und Gedanken löst das in dir aus? Wie reagierst du? Welche Konsequenzen hat das für die Beziehung zu diesem Menschen?
Darstellung der 4. Sterbephase nach Elisabeth Kübler-Ross: DEPRESSION
Typische Merkmale Beispiele typischer Äußerungen Wesentliches für die Begleitung
Trauer, Tränen Ja, ich. Tränen und Trauer zulassen.
Rückzug Ich schaue zurück. Es wird mir bewusst, Nicht ablenken, nicht vertrösten.
depressive was alles nicht mehr sein kann. Körperkontakt. Da-Sein. Ruhe und Geduld.
Erstarrung Ein riesiger Tränensee ist in mir. Zeit für Gespräche und stilles Dabeisein anbieten.
Angst Ich möchte mit meinem Gewissen ins Verständnis aufbringen, dass es traurig ist, alles hinter
Sinnfrage Reine kommen. sich zu lassen.
Lebensbilanz Meine Gedanken kreisen um alles, was Keine Wertung der Lebensbilanz.
ich in meinem Leben unterlassen habe. Hilfestellung bei Dingen, die noch erledigt werden
Ich habe Angst vor dem, was auf mich können (Aussprachen, Testament, Priester etc.)
zukommt. Es macht mich hilflos, dem Tod ins Gesicht zu
Ich habe keine Zukunft mehr. schauen.
Ich möchte meine Glaubensfragen Respekt vor der individuellen Form des Abschied-
klären. nehmens.
Anregung für eine persönliche Auseinandersetzung
Impulsfrage 1: Wieviele Abschiede hat es in meinem Leben schon gegeben, und wie habe ich sie gestaltet? („Meine persönliche Abschiedsgeschichte“)
Impulsfrage 2: Wenn ich auf mein Leben zurück schaue und die einzelnen Jahre an mir vorbeiziehen lasse: Was hat mein Leben bereichert, woran konnte ich mich freuen, welche positiven Ereignisse haben mich geprägt? („Bilanz meiner Freuden“)
Impulsfrage 3: Ich stelle mir vor, mein Leben neigt sich dem Ende zu. Ich ziehe Bilanz und überlege mir, welches Bild von mir, welche Eigenschaften, Handlungen und Erlebnisse der Nachwelt erhalten bleiben sollen. („Verfassen eines ‚eigenen’ Testaments“)
Darstellung der 5. Sterbephase nach Elisabeth Kübler-Ross: ANNAHME – EINWILLIGUNG - ZUSTIMMUNG
Typische Merkmale Beispiele typischer Äußerungen Wesentliches für die Begleitung
Friedlicher Ja, ich! Letzte Wünsche und Anweisungen festhalten.
Zustand Ich mache mir um das Morgen keine Zeit schenken.
Erschöpfung Sorgen mehr. Rückzug (= loslassen sozialer Bindungen) akzeptieren.
Gelöstheit Ich möchte die verbleibende Zeit Körperkontakt (Hand halten, Berührungen zulassen)
große Sensibilität ohne Kampf und Schmerzen erleben. Mit großem Einfühlungsvermögen „DA SEIN“
gesteigertes Ich möchte keine Besuche mehr haben. Begegnung als Mitmensch.
Selbstvertrauen Ich empfinde eine heitere Gelassenheit. Auf Wünsche eingehen (z.B. religiöser Beistand)
Ich wünsche mir einen Menschen, Einbeziehen der Bezugspersonen
der still bei mir ist. Begegnung als Mitmensch.
Ich möchte nicht in Vergessenheit Wissen um die besondere Sensibilität des Sterbenden.
geraten.
Der Tod ist nicht mehr mein Feind,
er ist mein Lehrmeister.
Anregung für eine persönliche Auseinandersetzung:
Impulsfrage 1: Welche Vorstellungen und Wünsche habe ich, wenn ich an mein eigenes Sterben denke? Welche äußeren Bedingungen wünsche ich mir, und welche Menschen möchte ich in der letzten Phase meines Lebens bei mir haben?
Impulsfrage 2: Wenn ich an mein Sterben, an meinen Tod denke: Was macht mir Angst und welche Möglichkeiten habe ich, mit dieser Angst fertig zu werden?
Impulsfrage 3: In der Begleitung von Sterbenden kommt es nicht nur auf meine fachliche Kompetenz an, sondern gerade auch auf meine menschlichen Qualitäten. Wo liegen meine Stärken, was kann ich besonders gut in der Begleitung schwerkranker Menschen?
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Darstellung der 1. Trauerphase nach Verena Kast: NICHT-WAHRHABEN-WOLLEN
Typische Gefühle Typische Äußerungen Körperlich/seelische Reaktionen
Leere „Das ist nicht möglich.“ Schockzustand: Veränderter Pulsschlag, Herzrasen
Hohlheit „Ich fühle mich verloren.“ Schweißausbrüche
Unwirklichkeit „Ich fühle mich in der Schwebe.“ Übelkeit, Erbrechen
Empfindungslosig- „Alles ist so unwirklich.“ Motorische (körperliche) Unruhe
keit „Nein, das kann nicht wahr sein.“ Verzögerte Reaktionen
Überwältigt-Sein „Es muss sich um einen Irrtum Bewegungslosigkeit, Starre
Betäubung handeln.“ Sprachlosigkeit
Kontaktverweigerung
Verwirrung, Desinteresse
Anregung für BegleiterInnen:
- Alltägliche Besorgungen übernehmen.
- Für das Aufrechterhalten des Tagesrhythmus’ sorgen (Aufstehen, Anziehen, Essen, Ausgehen, Ruhen, Arbeiten…..)
- Trauernde dort unterstützen, wo sie überfordert sind.
- Hilfestellungen bei Regelungen, die im Zusammenhang mit dem Todesfall stehen.
- Trauernde nicht allein lassen.
- Trauernde in ihren Reaktionen nicht bevormunden.
- Da-Sein, ohne viel zu fragen.
Quelle: „Zeit des Abschieds. Sterbe- und Trauerbegleitung“ Monika Specht-Tomann, Doris Tropper, Patmos Verlag Düsseldorf, 1998
Seminarunterlage 2004:
Dr. Herta Scheucher, Psychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin, Rudolf-List-Gasse 45, 8010 Graz, Tel.:0316/ 46 38 74
Darstellung der 2. Trauerphase nach Verena Kast: AUFBRECHENDE EMOTIONEN
Typische Gefühle Typische Äußerungen Körperlich/seelische Reaktionen
Wut „Wie konntest du mir das antun?“ Reizbarkeit, Depression, Apathie
Ohnmacht „Warum hat sie mich allein zurück Desinteresse
Zorn gelassen?“ Panikattacken, Herzrasen
Traurigkeit „Nun muss sie nicht mehr leiden.“ Brustbeklemmungen
Freude „Die Ärzte sind an allem schuld.“ Kurzatmigkeit, Atemnot
Angst „Hätte ich ihn nicht allein gelassen.“ Stimmungslabilität
Schuldgefühle „Hätte ich mehr für ihn getan, wäre Anklage – Idealisieren
er nicht tot.“ Konzentrationsstörungen
„Mein Schmerz wird immer größer.“ Appetitmangel, Schlafstörungen
Anregung für BegleiterInnen:
- Gefühlsausbrüche können heilsam sein und sollten nicht als Störungen verstanden werden.
- Wut, Zorn gehören ebenso zur Trauer wie depressive Verstimmungen.
- Von ungelösten Problemen, Schuldgefühlen und Konflikten nicht ablenken.
- Ablenken ist selten hilfreich sondern unterstützt das Verdrängen und verzögert den Trauerprozess.
- Probleme aussprechen lassen.
- Schuldgefühle nicht ausreden. Da-Sein, Zuhören. Keine wertenden Stellungnahmen abgeben.
- Am Erleben und Erinnern des Trauernden anteilnehmen.
- Anregungen für alltägliche Erleichterungen geben (z.B. Tagebuchschreiben, Spazierengehen, Entspannungsübungen etc.)
Quelle: „Zeit des Abschieds. Sterbe- und Trauerbegleitung“ Monika Specht-Tomann, Doris Tropper, Patmos Verlag Düsseldorf, 1998
Seminarunterlage 2004:
Dr. Herta Scheucher, Psychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin, Rudolf-List-Gasse 45, 8010 Graz, Tel.:0316/ 46 38 74
Darstellung der 3. Trauerphase nach Verena Kast: SUCHEN UND SICH-TRENNEN
Typische Gefühle Typische Äußerungen Körperlich/seelische Reaktionen
Einsamkeit „Ich glaube, sie im Garten zu sehen.“ Depressive Zustände
Verzweiflung „Um 6 Uhr glaube ich, er kommt heim.“ Suizidale Gedanken
Unverständnis „Nachts glaube ich, sie ist bei mir.“ Intensive Träume
Minderwertigkeits- „Niemand kann mich wirklich verstehen.“ Zeitweiser Realitätsverlust
gefühle „Ich sehe überall Menschen, die ihm Suchverhalten
Hilflosigkeit ähnlich sehen.“ Lautes Reden mit dem Toten
Freude „Ich suche sie überall.“ Innere Zwiegespräche
Dankbarkeit „Das hätte er auch so gemacht …“ Phasenweise: überaktiv - apathisch
Unruhe „Wie lang muss ich noch leben?“ Immer wieder: Suchen – Finden – Trennen
Identifikation „Er hat mein ganzes Leben bestimmt.“
Anregung für BegleiterInnen:
- Alle Erlebnisse der Vergangenheit dürfen angesprochen werden – keine Zensur vornehmen.
- Akzeptieren, dass immer wieder in verschiedenen Formen „gesucht“ wird.
- Geduld. Zeit lassen.
- Zuhören, auch wenn man die Geschichten (so oder auch anders) schon kennt.
- Gefühle ernst nehmen, die durch Erinnerungen und Erzählungen wieder auftauchen.
- Phantasien zulassen, die den Tod des Verstorbenen bezweifeln – ohne selbst mitzuphantasieren.
- Bei Selbstmordgedanken kontinuierlich begleiten. - Kein Drängen auf akzeptieren des Verlustes.
- Unterstützung bei Ansätzen der Neuorientierung.
Quelle: „Zeit des Abschieds. Sterbe- und Trauerbegleitung“ Monika Specht-Tomann, Doris Tropper, Patmos Verlag Düsseldorf, 1998
Seminarunterlage 2004:
Dr. Herta Scheucher, Psychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin, Rudolf-List-Gasse 45, 8010 Graz, Tel.:0316/ 46 38 74 c:Seminar-Inhalte/3.Trauerphase
Darstellung der 4. Trauerphase nach Verena Kast: NEUER SELBST- UND WELTBEZUG
Typische Gefühle Typische Äußerungen Körperlich/seelische Reaktionen
Glück „Endlich ist das Chaos zu Ende.“ Normalisierung veränderter Körperfunktionen
Freude „Ich fange neu an.“ Orientierungsschwierigkeiten
Selbstständigkeit „Ich bin stolz das gemeistert zu haben.“ Anfälligkeit für Rückfälle
Befreiung „Mein Leben hat wieder Sinn.“ Labile Stimmungslage
Selbstachtung „Ich fühle mich befreit.“ Überreaktion auf jede Form von Verlust
Erleichterung „Er ist mein innerer Begleiter.“ Änderung der Selbst- und Fremdbilder
Freiheit „Ich verstehe jetzt mehr vom Leben…“
Anregung für BegleiterInnen:
- Dafür sorgen, dass der Trauernde auch den Begleiter loslassen kann.
- Akzeptieren, in der bisherigen Form nicht mehr gebraucht zu werden.
- An der Situation der Hilflosigkeit des Trauernden nicht festhalten.
- Eigene „Bedürftigkeit“, helfen zu müssen überprüfen (Helfer-Syndrom!!!)
- Veränderungen im Beziehungsnetz des Trauernden begrüßen und unterstützen.
- Neues akzeptieren.
- Sensibel bleiben für mögliche Rückfälle.
- Gemeinsam Formen suchen, die Trauerbegleitung behutsam zu beenden oder umzugestalten.
Quelle: „Zeit des Abschieds. Sterbe- und Trauerbegleitung“ Monika Specht-Tomann, Doris Tropper, Patmos Verlag Düsseldorf, 1998
Seminarunterlage 2004:
Dr. Herta Scheucher, Psychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin, Rudolf-List-Gasse 45, 8010 Graz, Tel.:0316/ 46 38 74
BUCHBESPRECHUNG
Das Orangenmädchen
Jostein Gaarder
Carl Hanser Verlag, München Wien 2003
ISBN 3-446-20344-4
Ein reizendes Buch, das den fiktiven Brief eines Vaters – der vor 11 Jahren verstorben ist – an seinen Sohn enthält. Der Sohn schreibt die Rahmengeschichte, die Geschichte seiner ersten Liebe und erfährt im Brief des Vaters von dessen großen Liebe zum Orangenmädchen.
Die Idee ist wunderbar und sollte zur Nachahmung anregen. So oft leben Menschen ihrem Tod entgegen und können ihren Liebsten so vieles nicht sagen, entweder weil sie sprachlos sind oder wie im Fall der vorliegenden Geschichte, der geliebte Sohn mit vier Jahren noch zu klein ist, um die Gedanken seines Vaters zu verstehen.
Der Brief ist aber auf den ersten Blick fiktiv, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass ein todkranker Mensch so langwierig und ausschweifend schreibt, wenn er weiß, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hat und seine Kräfte zu Ende gehen.
Nichts desto trotz, ist das Buch gerade für Jugendliche lesenswert, die ihren Eltern viele Fragen stellen möchten, dann aber doch an der unsichtbaren Generationenschranke abprallen. Ebenso ist es empfehlenswert für kranke Menschen, die ihren Nachkommen eine Geschichte von sich selbst überlassen möchten. Sie können sich von Gaarder inspirieren lassen.
Über den unmittelbaren Bezug hinaus, erinnert mich dieses Buch auch an ein AIDS-Projekt in Afrika, das die Eltern, die ihrem Tod entgegen leben dazu anregt, ihren Kindern ein Vermächtnis zu hinterlassen, das sich entweder auf Gedanken über das Leben bezieht oder sie mit den Ahnen bekannt macht oder den Waisen einfach übermittelt, wie sie ihre Felder bestellen sollen. Dieses Projekt wird vom schwedischen Schriftsteller Henning Mankel international propagiert und gibt tausenden unter den Millionen afrikanischer Waisenkinder eine Orientierung für eine elternlose Zukunft.
Spiritualität ohne Gott
Vorwort
Ich persönlich habe mich immer als spirituellen Menschen verstanden. Aber wo ich auch hingekommen bin, haben andere mich als nicht spirituell definiert.
Woran mag das liegen?
Vielleicht liegt es an unterschiedlichen Definitionen von Spiritualität.
Wikipedia:
Spiritualität (v. lat.: spiritus = Geist, Hauch) bedeutet im weitesten Sinne eine Form von Geistigkeit in der alles Wirkliche Geist oder Erscheinungsform des Geistes ist.
An dieser Stelle nickt mein konstruktivistisches Denken: Ja, genau so ist es: Wir haben gar keine Ahnung von der wirklichen Wirklichkeit. Alles was wir als wirklich wahrnehmen, wird uns durch unsere Sinne vermittelt und wir haben keine Ahnung, wie zuverlässig diese Wahrnehmung ist. Und wenn in unserer Welt auch fast alles in Gegensatzpaaren auftritt, wie das Gute und das Schlechte, das Grosse und das Kleine, so gibt es zur Wahrnehmung als Gegensatz die Falschnehmung nicht. Wenn zwei streitende Ehepartner einem unabhängig von einander vom selben Sachverhalt erzählen, hat man eher den Eindruck es müsste sich um zweifache Falschnehmung als um Wahrnehmung handeln.
Spiritualität steht für die Verbindung zum Transzendenten oder der Unendlichkeit.
Da jauchzt mein systemisches Denken: Ich bin zutiefst überzeugt, dass unser gesamtes Tun bis ins Unendliche Auswirkungen hat und wieder Rückwirkungen auf uns hat. Alles hat Auswirkung und Rückwirkung und wieder Auswirkung und Rückwirkung bis ans Ende aller Tage.
Religiöse Spiritualität ist auch eine Art Lebenspraxis.
Bei Jan Philipp Reemtsma lese ich nach, was „religiös“ bedeutet:
„Religiös ist derjenige, der meint, was immer wir auf diesem oder jenem Wege noch über die Welt herausbekommen können: das, was die Welt im Innersten zusammenhält, das Geheimnis der Welt, ihr Sinn - also irgendwie: das Eigentliche wird es nicht sein. Und: auf dieses Eigentliche kommt es an. Denn wer sagt, die Wissenschaften könnten auf alle diese Fragen keine Antwort geben, aber er empfinde das auch keineswegs als Mangel, ist deutlich nicht religiös. Religiös ist derjenige, der die Welt aufteilt in das, was unserem Wissenwollen zugänglich und gerade darum nicht das Wesentliche ist, und das andere, Wesentliche, zu dem es einen anderen Zugang geben muss.“ [1]
Wenn ich die Definition von Reemtsma heranziehe, muss ich ganz klar sagen: Religiös bin ich nicht. Aber ich sage ganz deutlich: das Wesentliche – das Geheimnis der Welt – der Sinn im Leben liegt im Verborgenen. Und ich sage, dass die Wissenschaften darauf keine Antwort finden werden, und das fehlt mir nicht, weil ich von den Wissenschaften darauf auch keine Antwort erwarte.
Und ich gehe noch weiter und sage: Es gibt etwas anderes, das zwar nicht der Wissenschaft – auch nicht der Psychologie im Allgemeinen – zugänglich ist, aber sehr wohl dem Einzelnen. Und das ist die persönliche Erfahrung. Die persönliche Erfahrung, zu der uns unsere Wahrnehmung verhilft und mit gespeicherten Erfahrungen in Beziehung setzt.
Aber nochmals zurück zu Reemtsma, der mir die Antwort darauf gibt, wo jene Leute, die den Standpunkt vertreten, dass ich nicht spirituell sei, ihre Legitimation hernehmen: Der religiöse Mensch beansprucht für sich, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben.
„Für einen religiösen Menschen ist - eigentlich - eine säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft des Irrtums. Diese Ansicht teilt die Geistlichkeit Teherans mit der (orthodoxen) Geistlichkeit Jerusalems und der Geistlichkeit Roms.“
Und genau diese Überheblichkeit, dass manche religiös Spirituellen meinen, sie wüssten besser, wie die Welt und das Leben funktioniert ist es, woran ich mich gestoßen habe – insbesondere bei unserer letzten Fortbildung mit einer Theologin, die in ihren Nebenbemerkungen deutlich zu verstehen gab, was sie vom selbstfabrizierten Gott diverser Esoteriker hält. Sie, die ausgebildete Theologin, die exakt weiß, wie wir uns Gott vorzustellen haben, oder die vielleicht sogar weiß, wie Gott ist.
Hingegen:
„Die Öffentlichkeit einer säkularen Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Vorstellung eines solchen privilegierten Zugangs zur Wahrheit nicht kennt. Die säkulare Gesellschaft ist keine profane Theokratie: die "wissenschaftliche Weltanschauung" (wenn es denn so was überhaupt gibt, woran ich zweifle) tritt in ihr nicht an die Stelle einer Religion, auch wird der Religiöse auf Grund seiner Ansichten von sich selbst, seiner Idee, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben, nicht für wahnsinnig gehalten oder sonst wie diskriminiert. Damit kümmert sich eine säkulare Gesellschaft um genau das nicht, was einem religiösen Menschen - wenn er es ernst meint - das Wichtigste sein muss.“
Und genau da finde ich mich aufs Neue wieder:
Und damit bin ich bei meinem ureigensten Anliegen, der Verbreitung einer spirituellen Psychologie angelangt.[3]
Mit einem Lächeln zitiere ich Thorwald Dethlefsen, „dass der einzige Grund, warum ein Mensch in diese Welt inkarniert wurde, der ist, Psychotherapie zu machen.“
Im Ernst würde ich sagen: Der Sinn unseres Lebens ist es, uns unseres Selbst immer mehr bewusst zu werden und unsere Anlagen zu entfalten. Und die wirkungsvollste Methode, sich besser kennen zu lernen und unsere Entwicklung zu forcieren, ist in unserer westlichen Welt die Psychotherapie.
Einige Thesen aus der spirituellen Psychologie:
„...Wachstum des menschlichen Geistes ist das Ziel der menschlichen Existenz.“
„Das Leben ist schwierig.“
Wenn man das anerkennt, ist es gar nicht mehr so schwierig. Wer immer einen Rosengarten erwartet, tut sich schwer.
„Das Leben ist eine Serie von Problemen. Wollen wir darüber klagen oder sie lösen?“
„Disziplin gehört zu den Grundwerkzeugen, die wir brauchen, um die Probleme des Lebens zu lösen.“ „Mit totaler Disziplin können wir alle Probleme lösen.
„Nur durch Probleme wachsen wir.“
„Die Neigung, Problemen und den ihnen innewohnenden gefühlsmäßigen Leiden auszuweichen, ist die Hauptgrundlage aller menschlichen seelischen Krankheiten.“
Einige besitzen den Mut, sich ihren Neurosen zu stellen, und fangen mit Hilfe der Psychotherapie an, „zu lernen, wie man echtes Leiden erlebt.
„... ohne Heilung beginnt der menschliche Geist zu schrumpfen.“
„... unsere Kinder sollten lernen, dass Leiden notwendig und wertvoll ist...“
„Disziplin ist: „Aufschub von Belohnungen, Akzeptieren von Verantwortung, Hingabe an die Wahrheit und Ausgewogenheit.“
„Wenn wir uns selbst und unseren Kindern Disziplin beibringen, dann zeigen wir ihnen und uns, wie man leidet, und auch, wie man wächst.“
„Ich kann ein Problem nur dann lösen, wenn ich sage: ‚Das ist mein Problem, und es ist meine Sache, es zu lösen.’“
„Wenn sie geheilt werden sollen, müssen sie früher oder später lernen, dass das ganze erwachsene Leben eine Abfolge von persönlichen Wahlen, von Entscheidungen ist. Wenn sie dies ganz akzeptieren können, werden sie freie Menschen.“
„Lügen ist ein Versuch, legitimes Leid zu umgehen, und erzeugt daher seelische Krankheit.“
Liebe ist der „Wille, das eigene Selbst auszudehnen, um das eigene spirituelle Wachstum oder das eines anderen Menschen zu nähren.“
„Liebe ist anstrengend.“
„Wirkliche Liebe tritt oft in einem Zusammenhang auf, in dem das Gefühl der Liebe fehlt, nämlich dann, wenn wir liebend handeln, obwohl wir keine Liebe empfinden.“
„Sich zu verlieben ist keine Ausdehnung der eigenen Beschränkungen oder Grenzen, sondern ein teilweiser und vorübergehender Zusammenbruch dieser Grenzen.“
„Die Erfahrung wirklicher Liebe hat mit der Ausdehnung der Ichgrenzen zu tun, in Richtung des geliebten Menschen, dessen Wachstum wir fördern wollen.
„Spirituelles Wachstum kann nur durch das „beständige Üben wirklicher Liebe erreicht werden.“
„Passiv abhängige Menschen „sind so mit dem Bemühen beschäftigt, geliebt zu werden, dass sie keine Energie übrig haben zu lieben.“
„Mann kann nur dann sicher sein, dass man geliebt wird, wenn man ein Mensch ist, der liebenswert ist, und Sie können nicht liebenswert sein, wenn es Ihr Hauptziel im Leben ist, geliebt zu werden...“
„Wann immer wir meinen, etwas für einen anderen Menschen zu tun, leugnen wir in gewisser Weise unsere eigene Verantwortung.“
„Jeder, der wirklich liebt, kennt die Freude zu lieben.“
„Alles Leben stellt an sich ein Risiko dar, und je liebender wir unser Leben leben, desto mehr Risiken gehen wir ein.“
„Wenn man sich in irgendeine Dimension ausdehnt oder wächst, wird man immer durch Schmerz wie durch Freude belohnt. Ein volles Leben ist auch voller Schmerz.“
„Verpflichtung ist die Grundlage, der gewachsene Fels jeder echten liebevollen Beziehung.
Wenn ich eine langfristige Therapie beginne, gehe ich eine Verpflichtung ein gegenüber diesem Menschen. Und ich werde mit dieser Person arbeiten, so lange es nötig ist, ob das nun ein Jahr, fünf Jahre, zehn Jahre oder wie lange immer dauert. Der/die KlientIn wird der/die jenige sein, welche/r diese Beziehung beendet. Falls ich nicht vorher sterbe, stehen meinen KlientInnen meine Dienste so lange zur Verfügung, solange sie sie haben wollen.
Der Punkt an dem die KlientInnen ihre Verpflichtung gegenüber dem Therapeuten und dem Heilungsprozess zu zeigen beginnen, ist der Wendepunkt in der Therapie.
Über diese Thesen hinausgehend möchte ich darauf hinweisen, dass die Logotherapie, die auf Viktor Frankl zurückgeht, insbesondere die Suche nach dem Sinn des Lebens in den Mittelpunkt stellt. Dabei geht es nicht darum, einen irgendwo vorhandenen Sinn zu suchen, sondern gemeinsam einen Sinn zu entwickeln, zu kreieren. Frankl selbst hat sich meines Wissens nie über seine eigenen Gottesvorstellungen geäußert.
Genau so möchte ich es auch in meiner Arbeit, sei es in Psychotherapie oder in der Arbeit mit todkranken Menschen halten: Meine Gottesvorstellung ist ganz intim. Die Gottesvorstellung oder der Glaube meiner KlientInnen ist nur insofern relevant, als er unterstützend oder schwächend für die Bewältigung der jeweiligen Probleme ist.
Sowohl die spirituelle Psychologie, als auch die Logotherapie zeigen auf, dass Spiritualität ohne Gott möglich ist.